«Ich wäre am Boden zerstört» | NZZ (2024)

Interview

Der Rad-Journalist David Walsh will nicht so tun, als hätte er keine Meinung. Er stand am Ursprung von Lance Armstrongs Überführung, jetzt nimmt er den Tour-Leader Chris Froome in Schutz.

Christof Gertsch, Benjamin Steffen

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«Ich wäre am Boden zerstört» | NZZ (1)

Chris Froome, der Leader der Tour de France, leistet Aussergewöhnliches. Ist es falsch, allein deswegen die Frage zu stellen, ob er sauber ist oder nicht?

Es ist nicht falsch, aber gefährlich. Wir denken vielleicht, dass die Wissenschafter, die sich jetzt mit der Interpretation von Leistungsdaten überbieten, unabhängig seien. Aber so einfach ist es nicht. Auch die haben Vorgeschichten, Absichten, Twitter-Kontos, Persönlichkeiten. Und vielleicht treibt manche von ihnen der Wunsch an, berühmt zu werden. Da war dieser Wissenschafter im Fernsehen. Er sagte, Froome leiste am Berg 7 Watt/Kilo. Und jetzt sagt Tim Kerrison, der Sportwissenschafter bei Sky, Froome leiste weniger als 6 Watt/Kilo. Was stimmt? Wir wissen es nicht.

Manchmal leistet Froome, was einst nicht einmal Lance Armstrong schaffte.

Wenn ich vor Gericht stünde und sagen würde, Froome sei gedopt – dann würde ich meine Beweisführung besser nicht ausschliesslich an Leistungsdaten festmachen. Ich müsste Zeugen präsentieren, von denen ich sagen könnte: Seht her, die haben mir alles erzählt. Das sind die, die wissen, dass Froome dopt.

Zeugen wie gegen Armstrong?

Das ist der Unterschied von damals zu heute. Die Leute sagen mir, Froome wirke auf sie wie Armstrong, also müsse Froome ebenfalls gedopt sein. Ich sage: Er wirkt auf mich nicht wie Armstrong.

Warum nicht?

An der Tour 1999 war Armstrong positiv auf Kortison getestet worden. Ich fand das heraus, und ich fand auch heraus, dass der Weltverband ihm dafür rückwirkend eine Ausnahmegenehmigung ausgestellt hatte. Ich hatte jeden Grund, skeptisch zu sein – von seinem allerersten Tour-Sieg an. Und das war ja nicht alles. Damals gab es im Peloton einen jungen Fahrer namens Christophe Bassons. Er schrieb Kolumnen und sagte sinngemäss, alle grossen Fahrer seien gedopt. Was haben wir heute? Gibt es von Froome einen positiven Dopingtest? Gibt es im Peloton einen Fahrer wie Bassons?

Nein.

Froome fährt seit drei Jahren an der Spitze. Als Armstrong seit drei Jahren an der Spitze fuhr, hatte ich Betsy Andreu, die Frau von Armstrongs früherem Teamkollegen Frankie, die mir sagte, sie wisse, dass Armstrong dope. Ich hatte Armstrongs frühere Masseurin Emma O'Reilly, die mir sagte, das ganze Team dope. Ich wusste, dass Armstrong mit Michele Ferrari arbeitet, dem «Dottore EPO». Und der frühere Tour-Sieger Greg LeMond hatte mir von einem Gespräch mit Armstrong erzählt, in dem Armstrong gesagt hatte: «Es ist simpel. Du warst gedopt, ich dope. Du nahmst EPO, ich nehme EPO.»

Und bei Froome: nichts dergleichen?

Vielleicht ist es eine Schande für mich – aber: nichts. 2013 begleitete ich das Team Sky durch den ganzen Giro. Der Teamarzt erzählte mir, wie ihm Froomes Durchbruch an der Vuelta 2011 derart suspekt vorgekommen sei, dass er sich alle Leistungsdaten und Blutwerte angeschaut und mit Froome alle möglichen Tests durchgeführt habe – und dass er nichts Verdächtigtes gefunden habe. Ich recherchierte auch Froomes Vergangenheit. 2007 kam Froome, der in Kenya aufgewachsen war, nach Europa, um sich im Entwicklungszentrum des Weltverbands ausbilden zu lassen. Der Trainer, der das Zentrum leitete, sagte mir, er habe nie bessere Leistungswerte gesehen. Froome war schon vorher in Europa gewesen, an einer Nachwuchs-Rundfahrt in Italien. Die eine Bergetappe gewann er, und die andere gewann er nur darum nicht, weil er der Umleitung für die Teamwagen folgte, statt ins Ziel zu fahren. Den Gesamtsieg verpasste er, weil er technisch Mühe hatte und in den Abfahrten die Hinter- statt die Vorderbremse benutzte.

Sie waren der erste Armstrong-Kritiker, lange einer der einzigen. Die Zeugen, die Sie vorhin aufgezählt haben, wussten, dass sie bei Ihnen an der richtigen Adresse sind. Bei Froome ist es umgekehrt: Ihn nehmen Sie in Schutz. Angenommen, es gäbe auch in seinem Fall Zeugen, die wissen, dass er dopt – könnte es sein, dass die sich hüten würden, an Sie zu gelangen, weil sie Ihnen nicht trauen?

Klar, das kann sein. Ich hoffe es nicht. Wenn ich heute erfahren würde, dass Froome dopt – ich würde es morgen mit all meinem Enthusiasmus in die Zeitung schreiben. 1987 schrieb ich die Biografie von Stephen Roche, dem irischen Tour-Sieger. 15 Jahre später fand ich Beweise dafür, dass auch er gedopt hatte. Und ich war der Erste, der in Grossbritannien darüber schrieb.

Wenn wir sagen, es sei falsch oder zumindest gefährlich, Froomes Sauberkeit allein aufgrund seiner Leistungsdaten infrage zu stellen, und wenn wir zudem sagen, für begründete Zweifel brauche es Beweise – wie verhält es sich denn damit, dass das Team Sky 2011 und 2012 mit dem Arzt Geert Leinders zusammenarbeitete, obwohl in der Szene bereits damals bekannt war, dass er in früheren Teams mit Doping gearbeitet hatte?

Das war sehr dumm, ja.

Und wie verhält es sich damit, dass Sky und Froome an der Tour de Romandie 2014 um eine Ausnahmegenehmigung für den Einsatz von Kortison baten? Sky sagt, eine restriktivere Anti-Doping-Politik als andere Teams zu verfolgen, aber es gibt eine ganze Reihe von Teams, die ihren Fahrern den Einsatz von Kortison im Rennen strikt verbieten.

Auch das war sehr dumm, und das habe ich auch immer betont. Froome sagt, er sei krank gewesen und habe das Kortison benötigt und er habe sich von mehreren Experten versichern lassen, dass er sich damit keinen Leistungsvorteil verschaffe. Ich sagte ihm: «Du hast die Tour de Romandie gewonnen, und die Fahrer hinter dir, die auf den Plätzen 2 bis 5, fahren alle für Teams, in denen Kortison verboten ist. Du hast dir also doch einen Vorteil verschafft.»

Angenommen, Froome ist sauber . . .

. . . dann ist seine Geschichte eine der schönsten, die der Sport je schrieb.

Warum?

Weil er in einem Land aufwuchs, in dem es kaum richtige Strassen zum Radfahren gibt. Weil er als Kind des weissen Mittelstands aufwuchs und mit lauter schwarzen Kindern aus den Townships Radfahren lernte. Das weisse Kind, die schwarzen Kinder – die kommen aus derart unterschiedlichen Welten. Wie funktioniert das? Das ist wunderschön.

Sagen Sie, Froome sei sauber?

Ich glaube, dass er sauber ist. Aber ich weiss es nicht.

Vor zwei Jahren schrieben Sie einen Artikel mit dem Titel: «Why I believe in Chris Froome». Hat das Mut gebraucht?

Man braucht nicht Mut, um ehrlich zu sein. Frankie Andreu, wir sind gute Freunde, sagte mir 2013, ich solle neutral sein, wie die Schweiz.

Warum sind Sie es nicht?

Wenn ich glaube, dass er sauber ist, aber öffentlich so täte, als ob ich keine Meinung hätte – das wäre unehrlich.

Sie standen mit Ihrer Hartnäckigkeit am Ursprung von Armstrongs Überführung und stehen für Glaubwürdigkeit. Sind Sie sich Ihrer Rolle bewusst, wenn Sie Froome verteidigen?

Mir wäre lieber, wenn ich ein normaler Journalist wäre. Ich hasse es, wenn man sagt, ich sei das Sprachrohr von Sky.

Welchen Anteil hat Ihr Gefühl an Ihrem Urteil über Froome?

Als ich 2001 Armstrong interviewte und ihn auf Tom Simpson ansprach, den Fahrer, der am Mont Ventoux wegen einer Überdosis kollabiert und gestorben war – da sagte Armstrong: «Ja, ja, ich kenne die Geschichte. Aber Simpson wurde nie positiv getestet.» Da wusste ich: Er ist ein Lügner. Ihm geht es nicht darum, sauber zu sein. Sondern darum, nicht erwischt zu werden.

Was würde es für Sie bedeuten, wenn Froome positiv getestet würde?

Ich wäre am Boden zerstört.

Wegen Ihres Images?

Mein Image ist mir egal. Es geht um etwas Persönliches. 2013 fuhr Froome als Tour-Sieger in Paris ein, und auf den Champs-Elysées sagte er, dass er den Sieg seiner an Krebs verstorbenen Mutter widme. Später sagte ich ihm: «Wenn du dopst, ist deine Lüge noch grösser als jene Armstrongs. Denn sie kommt nach jener von Armstrong.» Lassen Sie es mich so sagen: Wenn Froome und Sky dopen – dann ist es eine unglaubliche Irreführung. Bei Armstrong sickerten irgendwann Beweise durch, man hörte Geschichten. Bei Froome nicht.

Vielleicht haben Froome und Sky nur aus der Vergangenheit gelernt.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich glaube, dass es bei Sky kein Doping gibt.

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